Zeit: Mittwoch, 10.30 Uhr
Die Selbsthilfegruppe „Anonyme Bloggerinnen“ trifft sich einmal pro Woche für 90 Minuten mit ihrer Therapeutin Anna E. (Name von der Redaktion geändert). Sechs Frauen zwischen 20 und 55 sitzen auf Eames Chairs inklusive Schafsfell. In der rechten Hand: Kaffeebecher von Starbucks. In der linken Hand halten alle Frauen ein iPhone und starren auf das Display. Zu ihren Füßen: Möpse, englische Bulldoggen und Chanel-Taschen. Gesprochen wird kein Wort. Bis eine der Frauen zu reden beginnt.
Ich bin Gudrun und ich bin nicht authentisch.
„Ich bin Gudrun. Ich bin neu hier. Und ich bin nicht authentisch“. Die anderen Frauen schauen vom Handy hoch. Sie sehen sich gegenseitig an. Dann sehen sie ihre Therapeutin an. Einer laufen Tränen über die Wangen. Die Therapeutin beugt sich vor, sieht Gudrun liebevoll an und sagt: „Erzähl uns deine Geschichte, Gudrun. Vertrau uns.“
Gudrun seufzt. Sie schaut in die Runde, Ihre Hand mit dem Kaffeebecher zittert. Und dann beginnt sie zu erzählen.
„Es hat alles ganz harmlos angefangen. Ich wollte doch nur bloggen, so wie all die Anderen. Die wirkten so *denkt nach* glamourös. Ich wollte das auch. Ich hatte doch nichts Eigenes. Nur Egon, meinen Mann. Und die Kinder. Und Wäsche. *stockt* Ich habe also angefangen. Und weil die anderen Bloggerinnen doch alle so schlank waren, habe ich mir von meinem Sohn zeigen lassen, wie man sich mit diesem Photoshop ein bisschen dünner macht. Nur ein bisschen! Ich schwöre! Alles lief gut. Es machte Spaß. Und dann kam die erste Kooperation. Mit einem Diät-Shake-Hersteller. Ich habe mich so gefreut. Ich bekam Shakes für drei Monate. Kostenlos! Aber die waren eklig. Abgenommen habe ich auch nicht. Aber das ging doch nicht. Ich konnte doch meine erste Kooperation nicht in den Sand setzen. Also habe ich mich schlanker gemacht. Von Woche zu Woche. Und ich bekam Bestätigung. Es war großartig. Der Kooperationspartner war glücklich. Ich auch. Und meine Leserinnen erst. Ich lernte schnell. Und als dann die zweite Kooperation mit einem Anti-Falten-Creme-Hersteller kam, da wusste ich ja, wie es geht mit Photoshop. Es wird einem auch viel zu einfach gemacht! *schaut trotzig auf die anderen Bloggerinnen*
Mehr Leser müssen her
Die Falten konnte ich mir nicht ganz wegretuschieren. Ich wollte doch wie all die anderen auch ein kostenloses Lifting in einer tollen Schönheitsklinik. Aber die Leserzahlen wuchsen dafür nicht schnell genug. Da habe ich eben auch in Mode gemacht für die Zahlen. Nur meine Diäterfolge und so ein bisschen Creme reichten nicht, um richtig zu wachsen. Sogar mit Unterwäsche hab ich es versucht. Aber da in ich mit Photoshop echt an meine Grenzen gekommen. Obwohl ich damit echt gut war! Und Mode war so teuer, die muss ja auch was hermachen. Da reichte mein Taschengeld, das mir Egon jeden Monat gibt, einfach nicht aus. Egon ist aber auch so geizig. Und als ich das Taschengeld der Kinder genommen hab, haben die gepetzt.
Aber Tante Emmi, die hatte diese Schublade mit Schmuck. Tante Emmi wohnt im Pflegeheim und ist ein bisschen durcheinander. Da habe ich ihr gesagt, ich lasse ihren Schmuck reinigen. Sie hat gar nichts gemerkt, als der Schmuck nicht wieder zurückkam. *wird rot* Mit dem Erlös habe ich mir meine erste Designertasche gekauft und meinen Leserinnen erzählt, dass Egon mir die zum Hochzeitstag geschenkt hat, weil wir uns so lieben. Die müssen ja nicht wissen, dass er jeden Abend pupsend auf dem Sofa sitzt und ich sein Bier holen muss.
Dann wollten meine Leserinnen wissen, wie ich lebe. Ich konnte doch unmöglich die schäbige, kleine, unordentliche Drei-Zimmer-Wohnung zeigen. Aber meine Kollegin, die fragte mich, ob ich nicht ihre Katzen füttern könnte, während sie im Urlaub ist. Ich habe nicht nur die Katzen gefüttert, sondern Tausende von Fotos von ihrer teuren Einrichtung gemacht. Ich habe ihre Wohnung in zwei Wochen mit Tulpen und mit geliehenen Hunden und mit Weihnachtszeug dekoriert und fotografiert. Das reichte für knapp zwei Jahre. Und meine Kollegin, die hats ja nicht so mit Internet. Die hat das nie gemerkt.
Das süße Bloggerleben
So ging das weiter. Und ich hatte richtig viel Erfolg. Es war so toll! Ich bin gereist und war zu tollen Events eingeladen. *bekommt einen schwärmerischen Blick* Die Zahlen gingen immer weiter nach oben. Ich wurde immer geschickter mit Photoshop. Und die Leserinnen haben mich geliebt. Ich war die größte Ü40-Bloggerin des Universums. Ich war ein Vorbild. Ich war toll. *lächelt* Die haben echt alles gekauft, wenn ich es ihnen empfohlen habe. Sogar Waschmittel. Und die wollten Erziehungstipps von mir für ihre Kinder. Ich hatte die Macht! *setzt sich kerzengerade hin*
Dann kam die Wechseljahres-Geschichte. Alle schrieben plötzlich über Wechseljahre. Da hab ich einfach mitgemacht und ein paar Hitzewallungen erfunden. Ich war doch erst 45. Da waren noch keine Wechseljahre. Aber beim Bloggen habe ich mich immer zehn Jahre älter gemacht, damit alle sagen, ich sehe zehn Jahre jünger aus. *guckt stolz* Toller Einfall, oder? Wie großartig doch diese Zeit war. Alle haben mir geglaubt, dass ich mit meinem Alter überhaupt kein Problem habe, weil ich doch innendrin eigentlich viel jünger war. Naja, in Wahrheit ja auch. Aber das wusste ja keiner.
Aber das war der Anfang vom Ende. *die Stimme wird leise und schleppend* Plötzlich kamen so merkwürdige Kooperationsangebote. Nahrungsergänzungsmittel für Senioren. Haarwuchsmittel. Mittel gegen nächtlichen Harndrang. Und *flüstert* Tena Lady *bricht in Tränen aus*. Und sogar einen Treppenlift sollte ich testen. Das habe ich abgelehnt. Genauso wie den Rollator. Tena Lady - die haben echt gut gezahlt. Aber ich konnte solche Posts nicht schreiben. Da hat mir die PR-Frau von der Agentur ausgeholfen und sie hat sie geschrieben.
Und dann explodierte es. Die blöde Else hatte nämlich ein paar Sachen falsch gemacht. Meine beste Freundin hieß nicht Sabine, die heißt Steffi. Aus Egon hat die dämliche Kuh Karl-Heinz gemacht. Ach, hätte ich die Texte doch gelesen, bevor ich sie veröffentlicht habe. *schluchzt* Hab ich aber nicht. Ich hatte keine Zeit, ich musste doch zu diesen Events. Und dann war plötzlich alles zu Ende. Meine Leserinnen habens gemerkt. Erst eine. Und die hat nicht dicht gehalten. Neidische Ziege. Hat alle anderen aufgestachtelt. Und dann haben die alles rausgefunden. Sie haben gesagt, ich bin nicht authentisch und sie lesen bei mir nicht mehr“. *bricht weinend auf dem Stuhl zusammen*
Die Frau neben Gudrun beugt sich vor. Sie hat Tränen in den Augen. Sie tätschelt Gudruns Hand und sagt leise „Das haben wir doch alle hinter uns. Erkennst du mich nicht? Ich bin Maximiliane“. Gudrun mustert ihre Nachbarin und zuckt zusammen. „Maxi? Meine beste, liebste, wunderbarste Insta-Zuckermaus?“ „Ja. Ich bin es. Mir ging es doch genauso wie wie dir. Deshalb hast du mich gerade auch nicht erkannt. Photoshop halt“, flüstert Maxi und umarmt Gudrun. *beide weinen gemeinsam*
Die Therapeutin guckt betroffen. Um weitere Gefühlsausbrüche zu vermeiden schließt sie die Sitzung. Sie hat noch ein wichtiges Meeting wegen der nächsten Kooperation und ist sowieso schon spät dran. „Aber ich habe heute viel gelernt. Ich lerne in jeder Sitzung viel. Bald kenne ich alle Fallstricke beim Bloggen und werde die größte Ü40-Bloggerin der Welt“, seufzt sie.
Gudrun bloggt heute nicht mehr. Sie ist Senior Product Manager bei Adobe und betreut die Entwicklung der neuen Photoshop-Version für Bloggerinnen ü40. Sie hat ein wunderbares Loft. Egon ist Geschichte und wurde von Harald abgelöst. Harald ist 23 Jahre alt und holt auf Zuruf Gudruns Champagner.
Liebe Grüße
Fran