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Foto: Pixabay |
Länger leben, selbstverständlich fit wie ein Turnschuh. Ganz ohne Einschränkungen, pumperlgesund sozusagen. Keine Schmerzen, keine Krankheiten, kein Rollator und schon dreimal keine Demenz. Das ist im Prinzip ein schönes Ziel. Und es gibt immer wieder Menschen, die das auch erreichen. Ich habe im vorigen Leben regelmäßig die Interviews mit den frischgebackenen Hundertjährigen gemacht. Weil ich die unglaublich gern gemacht habe. Es gab nie einen Hundertjährigen, der nichts zu erzählen hatte. Es gab vielmehr unglaublich spannende Lebensgeschichten. Ich habe es so sehr geliebt.
Die meisten der von mir besuchten Hundertjährigen nannten allerdings einen Rollator ihr Eigen. Und pumperlgesund war kaum einer von ihnen. Aber sie waren sich in einem einig: Sie ließen Krankheiten nicht zu viel Raum in ihrem Leben. Die waren da. Aber sie hinderten den Menschen nicht daran, zufrieden zu sein. Das war es übrigens auch, was sie alle als Grund dafür nannten, so alt geworden zu sein. Zufriedenheit mit dem, was ist. Aber das könnte auch die vielgerühmte anekdotische Evidenz sein.
Glaubt man den einschlägigen Longevity-Influencern, braucht es, um gesund alt zu werden, erstmal eine ganze Latte an Investitionen. Ohne Nahrungsergänzungsmittel geht da nix, der Körperfettanteil hat gefälligst so niedrig zu sein wie der Muskelanteil hoch und regelmäßige spirituelle Retreats für weniger Cortisol und Blutzucker , dafür mehr positive Vibes im Leben, sind Pflicht. Ohne dreimal pro Woche Saune und ebenso oft ein schnuckeliges Eisbad und ohne teure Ausrüstung, die nun wirklich jeden Parameter des Lebens aufzeichnet, ist man aufgeschmissen. Und für die richtige Ernährung sollte man mindestens ein Biochemie-Studium absolvieren oder aber den entsprechenden Online-Kurs beim Ernährungs-Coach besuchen. Das ist billiger als das Studium. Ob es besser ist, darüber breiten wir den Mantel des Schweigens. Abends brauchen wir dann eine halbe Stunde, um sämtliche Werte richtig einzuordnen. Und zufrieden sind wir nur, wenn sie ausspucken, dass wir biologisch eigentlich noch unter 30 sind. Ach ja, die Sache mit dem Schlafen ist am Ende des Tages auch nicht ganz so easy wie früher. Einfach ins Bett legen und selig wegpennen ist nicht. Erstmal werden drölfzig Gadgets zur Schlafüberwachung aktiviert, damit man am nächsten Tag auch mit Zahlen belegen kann, ob man tatsächlich gut geschlafen hat.
Zusätzlich ist es natürlich wichtig, niemals so alt auszusehen wie man ist. Man sollte schon auch optisch 20 Jahre jünger sein als der Pass behauptet. Und dass man mit drölfzig Trainingseinheiten pro Woche - am besten mit Personal Trainer für Longevity - gefälligst gertenschlank zu sein hat, ist eh klar. Ach ja, „hot“ zu sein ist auch wichtig, vor allem als Frau. Wer nicht mehr „hot“ ist, ist alt. Dann kannste dir auch nen Rollator kaufen ;-) Klar, dass man auch Stress zu meiden hat, wenn man gesund alt werden will. Oder eben ein Juwel der Resilienz zu sein hat.
Wenn man das alles beherzigt, hat man eine 85,876-prozentig gesenkte Wahrscheinlichkeit für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung und eine mindestens 77,5698-prozentig gesenkte Demenzwahrscheinlichkeit. Vermutlich. So genau weiß das niemand, weil ja nicht wirklich klar ist, warum manche Menschen plötzlich einen Schlaganfall erleiden oder was nun eine Demenz verursacht. Aber die Zahlen sehen doch klasse aus!
Klingt anstrengend? Finde ich auch. Anstrengend, teuer und zeitlich ganz schön zeitaufwändig. Aber ok, wenn man älter wird, hat man ja quasi auch mehr Zeit hinten raus. Und die kann man wunderbar schon vorneraus investieren. Ach ja, und wem das zu teuer ist: Das sollte man sich selbst schon wert sein! Hach, irgendwie kommen wir doch immer wieder beim Thema Selbstoptimiertung raus :-) Ach ja, Freunde mit einem Jahresgehalt unter drölfzigtausend sollte man übrigens als Longevity-Fan nicht haben. Die sterben ja viel früher, weil sie sich den ganzen Kram nicht leisten können. Und Einsamkeit im Alter verkürzt das eigene Leben. Sollte man auch wissen. Also den Freundeskreis bitte sorgsam auswählen!
Was ich mich frage: Wenn man all das beherzigt und damit rechnet, dass man bei guter Gesundheit mindestens 110 wird - sämtliche Werte waren ja immer total optimal - und dann kommt einem eine Erkrankung dazwischen, die all die schöne Optimierung über den Haufen wirft. Kann man das dann noch als Schicksal akzeptieren oder fragt man sich dann pausenlos, ob man selbst schuld ist? Ob man einen bestimmten Wert nicht ausreichend überwacht hat? Nicht genügend XYZ eingeworfen hat? Ich hab erlebt, was so eine völlig unverhoffte Erkrankung, die trotz aller Fitness, gesunder Ernährung und Pipapo mit einem Menschen machen kann. Und von der oben erwähnten Selbstoptimierung war da noch nichtmal ansatzweise die Rede.
Versteht mich nicht falsch: Es ist toll, wenn wir alle gesund älter werden. Wenn möglichst viel geforscht wird, um uns das zu ermöglichen. Aber bei all dem Hype sollte man vielleicht doch daran denken, dass man trotz aller Bemühungen gegen Schicksalsschläge nicht gefeit ist. Dass Gelassenheit vielleicht ein erstrebenswertes Gut ist und es vielleicht einfach mal egal sein sollte, ob frau mit Mitte 50 noch „hot“ ist. Longevity - das sind mir zu viele, zu hochgesteckte Erwartungen, für deren Erfüllung man sich jahrelang abstrampelt und dann kommt es doch anders?
Vielleicht will ich die Erwartungen auch gar nicht erfüllen. Vielleicht reicht es mir irgendwann, einfach sagen zu können, dass ich alt geworden, aber trotzdem zufrieden bin. Auch wenn ich einen Rollator vor mir her schiebe. Oder mein Hörgerät neue Batterien braucht. Und irgendwann ist so ein Leben vielleicht auch fertig gelebt?
Liebe Grüße
Fran